Welche Arbeitslehre brauchen Schüler?
Prof. Dr. Gerhard Gerdsmeier FB 10 Didaktik der Wirtschaftswissenschaft 05.12.01
In der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sich einmal mehr bezüglich der allgemeinbildenden Schulen die Einsicht durchgesetzt, dass in ihrem Fächerkanon und dessen Inhalten etwas fehlt, nämlich etwas, das Schülerinnen und Schüler auf zentrale Herausforderungen modernen Lebens vorbereitet. Ich lasse jetzt einmal ganz jene Überlegungen beiseite, die die Sinnhaftigkeit der allgemeinbildenden Schulen mit ihrem tradierten Fächerkanon und Klassenunterricht insgesamt in Frage gestehen haben, wie wir das bei Teilen der Reformpädagogik und der Arbeitsschulbewegung nachlesen können.
Natürlich bereiten die traditionellen Fächer wie Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geografie, Geschichte usw., wenn sie gut unterrichtet werden, Lernende auch auf das Leben vor und fördern Heranwachsende in ihrer Entwicklung. Gleichwohl fehlt etwas Entscheidendes. Wie immer auch der didaktische Ansatz in diesen Fächern gewählt wird und wie bedeutend auch ihr faktischer Impuls für die Jugendlichen sein mag: in letzter Konsequenz wird schließlich immer die Perspektive einer zugehörigen Wissenschaft entfaltet. Hinter jedem traditionellen Schulfach steht eine akademische Disziplin. Ihre jeweiligen Fragestellungen und darauf bezogenen Begriffsbildungen, Theorien, Methoden, Regeln usw. drücken dem Schulfach den Stempel auf, wenn das Fach ernsthaft betrieben wird.
Nun lässt aber die Gesamtheit dieser durchaus wertvollen Perspektiven der Schulfächer gleichwohl große blinde Flecken zurück. Diese blinden Flecken betreffen ein für die Heranwachsenden ungemein wichtiges Terrain - nämlich alles, was Jugendliche auf ihre tätige und gestalterische Einbindung in eine durch Erwerbsarbeit geprägte Welt vorbereitet.
· Zu diesen blinden Flecken gehören die technischen und ökonomischen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die faktischen Ausformungen und Ausdifferenzierungen des Erwerbssystems bis hin in die Anforderungen in den privaten Lebenssphären, die sozloökologischen Folgen und Gestaltungsmöglichkeiten der vorfindbaren Arbeitswelt, die Störungen und Verwerfungen in der Organisation arbeitsteiliger Prozesse und technischer Infrastrukturen, die Einbindung der regionalen Aufgaben und Probleme in globale Tendenzen und vieles mehr.
· Und wie in einem Brennglas bündeln sich diese Aspekte für jeden Heranwachsenden nochmals zu Fragen subjektiver Bedeutsamkeit: die Orientierung hin auf eine eigene Beruflichkeit, die Kultivierung dies stützender Kompetenzen und Bereitschaften, der reflektierte Aufbau zugehöriger Werte, die Ausformung begründeter Konsumstile und sozialer Orientierungen, die Fähigkeiten, seine persönlichen Gestaltungen entlang dieser Werte und Einstellungen zu entwickeln usw.
Es sollte also ein Schulfach geben, das diese Fragen erwerbswirtschaftlich geprägter Lebenssituationen thematisiert. Und bei diesen Lebenssituationen wird bevorzugt an den Haushalt, an den Betrieb und an die gesellschaftlichpolitischen Institutionalisierungen gedacht. Und neben instrumentellpraktischen Inhalten sollten vor allem auch die zentralen sachlichen Zusammenhänge deutlich macht und persönliche Orientierungen und Kompetenzen fördert werden. Das ist im Grunde wenig umstritten - solange man es derart allgemein formuliert.
Es zeigen sich nämlich sofort gewaltige Diskrepanzen und Missverständnisse, wenn man sich die Konkretisierungen dieser Idee in Unterrichten, Lehrplänen und Lehrmitteln vergegenwärtigt. Die Frage 'Welche Arbeitslehre brauchen Schüler?' verschiebt sich dann unversehens zu der Frage 'Welche Arbeitslehre brauchen Schüler nicht?' Auf einige der häufigsten Fehlformen möchte ich mit jeweils zwei, drei Sätzen eingehen.
(1) Eine erste erstaunliche Beobachtung ist die, dass Jugendliche - obwohl sie alle in die gleiche Erwerbsgesellschaft hineinwachsen, mit gleichartigen Problemen konfrontiert sind, vor gleichartigen Entscheidungen stehen, in gleichartiger Weise gefordert sind und gleichartige Wertkonflikte zu bewältigen haben, keineswegs in allen Schulformen Arbeitslehre geboten bekommen. Und wenn sie Arbeitslehre geboten bekommen, dann nicht dieselbe.
Das ist aus der Aufgabe des Fachs heraus sinnwidrig. Lernende bestimmter Schulformen mögen bestimmte Zusammenhänge mal schärfer, mal weniger differenzierend durchdringen, aber das kann keineswegs erklären, warum manchen bestimmte thematische Auseinandersetzungen vorenthalten werden - und zwar eher jenen, die tendenziell die Sache tiefer durchdringen könnten.
(2) Gerade weil das Schulfach Arbeitslehre in der Hinsicht einzigartig ist, dass hinter ihm keine Bezugswissenschaft steht, hat es nie an Bemühungen gefehlt und fehlt es auch jetzt nicht, ihm nachträglich Mütter zu verschaffen. Selbst-verständlich muss eine gehaltvolle Arbeitslehre zur Bewältigung der ihr übertragenen Aufgabe auch auf gehaltvolles Wissenschaftswissen und seine Begriffsbildungen zurückgreifen. Aber das darf nicht bedeuten, dass das Fach nur noch als organisatorische Klammer aufgefasst wird für die mehr oder weniger abbilddaktische Darbietung ökonomischer, technischer oder hauswirtschaftlicher Theorien vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen disziplinären Perspektiven.
Diese Auflösung des Fachs in additive Abbilddidaktiken finden wir in sehr vielen Bundesländern. Wir finden sie tendenziell auch in Hessen etwa im Gymnasium, in dem die Arbeitslehre auf eine in die Sozialkunde hinein gepfropfte Ökonomik reduziert wurde. Wir finden das auch als Hegemonialanspruch einer Disziplin, der Ökonomik, wenn derzeit große Verbände, aber auch einige wissenschaft-liche Einrichtungen fordern, Wirtschaftslehre solle (anstelle der Arbeitslehre) an Schulen eingeführt werden. Alle diese Wege bedeuten, dass die genuinen Ziele und Aufgaben einer Arbeitslehre preisgegeben werden.
(3) Es gibt aber auch das genau spiegelbildliche Problem, das auch in Hessen seit der Lehrplanrevision in den 90er Jahren vermehrt zu beobachten ist und mit einer dramatischen inhaltlichen Verflachung der Unterrichte einhergeht. Aufgrund einer völligen Fehldeutung der lerntheoretischen Grundlagen eines Lernens durch Handeln, verkommt der Unterricht schnell zum Aktionismus, Basteln, Werkeln und zu thematischer Beliebigkeit. Ein solcher Unterricht strebt nicht mehr an, über sorgfältig gewählte Lernanlässe das Handeln der Schüler zum besseren Aufbau und Verständnis theoretischer Begriffe zu nutzen.
Wenn - beispielhaft gesprochen (und das Beispiel ist mehr der Physik entlehnt) - im Unterricht Bilder aufgehängt werden sollen und Schüler dazu angehalten werden, Nägel selbsttätig möglichst präzise, effektiv und unfallfrei in die Wand zu schlagen, lernen sie vermutlich durchaus nützliche Dinge, allerdings pragmatische. Über diesen Anlass wird niemand angestoßen oder unterstützt, z.B. über den Begriff der Gravitation nachzudenken und sich ihn zu erschließen. - In gleicher Weise fördern heute in der Arbeitslehre viele fehlorlentlerte Aufträge zu Schülerarbeiten alles andere als die Erschließung bedeutender begrifflicher Konstrukte, um die Welt besser verstehen und gestalten zu können.
Tatsächlich ist das didaktische Konzept der Arbeitslehre, das sich - um es in zeitgemäßen Ausdrücken zu bezeichnen - an den Ideen der konstruktivistischen Didaktik orientiert, sehr anspruchsvoll, und es ist eine große Schwierigkeit für Lehrende, Aufgaben und Handlungsanlässe zu kreieren, die den Lernenden helfen, 'über den Tellerrand zu gucken'. Ich denke, dass die Lehrenden bei diesem schwierigen Geschäft in keiner Weise hinreichend unterstützt werden.
(4) In der unterrichtlichen Praxis gibt es - so höre ich es aus Diskussionen mit Lehrerinnen und Lehrern immer wieder heraus - zu der eben beschriebenen Ausprägung der Arbeitslehre als Mixtum aus Alltagswissen, Pragmatismus und Einsprengseln von Expertenwissen eine weitere bedenkliche Variante. Ich denke, dass diese zum schlechten Image des Fachs wesentlich beitragen dürfte.
Vielfach scheint auf das Erreichen spezifischer Ziele verzichtet zu werden. Ansprüche an inhaltliche Ergebnisse haben sich verflüchtigt. Was man in keinem Mathematik- oder Deutschunterricht durchgehen lassen würde, dass es nämlich gleichgültig sei, ob jemand richtig rechnet oder schreibt, das nimmt man für dieses Fach billigend in Kauf. Die Schülerinnen und Schüler seien heute so problematisch, schwierig, überfordert, lustlos. Man müsse sich nach der Decke strecken. Man müsse froh sein, wenn man etwas finde, bei dem die Klasse mitarbeite. Das ist eine sozialpädagogische Argumentation, und vermutlich nicht einmal eine schlüssige. Jedenfalls hat diese Anspruchslosigkeit mit den Aufgaben des Fachs Arbeitslehre nichts mehr zu tun.
(5) Auch zu dieser unterrichtlichen Auslegung finden sich Gegenpole. Aus der m.E. durchaus richtigen Einschätzung, dass die Jugendlichen zwar zu fördern, aber auch zu fordern sind und dass diese Forderungen sich z.T. über die Berufsorientierung bis zu den Ansprüchen und Erwartungen der Betriebe rückverfolgen lassen, wird in problematischer Weise gefolgert, die Schulen seien gehalten, sich im Interesse an ihren Schülern unbedingt und unbedrängt zum Erfüllungsgehilfen betrieblicher Erwartungen zu machen. Zur Sprache kommt dann i.d.R. eine lange Liste, die zahllose Fähigkeiten, Bereitschaften, Kompetenzen u.ä. auflistet: Arbeitstugenden, Flexibilität, Mobilität, lebenslanges Lernen, Ich-Kompetenz, Sozialkompetenz...
Verlängert man in unkritischer Weise diese Ideen der Betriebe in die Schulen, ist das mit dem gesetzlich fixierten Bildungsauftrag der Schulen und den Intentionen des Fachs Arbeitslehre nicht vereinbar. Schülerinnen und Schüler haben sich sehr wohl mit den Fremderwartungen auseinander zu setzen und sollten realistische Konzepte aufbauen, aber die Arbeitslehre ist nicht der Ort bloßer Anpassungsprozesse.
(6) In einer sehr platten Spiegelung dieser berufsorientierten Sichtweisen werden häufig Ideen reaktiviert, die der Arbeitslehre vorgängig waren. Das findet sich teilweise auch in aktuellen hessischen Lehrplanentwürfen zur Arbeitslehre.
Die Arbeitslehre ist immer wieder missverstanden worden als ein Fach, das die Inhalte von Unterrichten anderer Bezeichnung eigentlich nur fortführe: Werken, textiles Gestalten, Ernährung usw. Die hier angesprochenen Fertigkeiten aus Lehrplänen, die überwiegend vor mehr als 40 Jahre gültig waren, wirken auf die didaktisch interessierten Zeitgenossen natürlich z.T. antiquiert, aber die Kritik richtet sich dann leider nicht so sehr auf die instrumentelle Beschränktheit der Ansätze als auf die überlebte Thematik.
Es werden daher nur Modernisierungen vorgeschlagen. Die Modernisierungen konzentrieren sich dann darauf, Arbeitslehre als ein Fach zu interpretieren, in dem in moderne Medien eingeführt wird. Also: Arbeitslehre ist dann z.B. der Ort, an dem intensiv Grundkurse für den Umgang mit Computern zu veranstalten sind.
Nicht dass in modernen Unterrichten nicht auch moderne Medien Platz haben sollen, aber der Einsatz dieser Medien ist in der Arbeitslehre (wie anderswo) nur gerechtfertigt, wenn die Medien als wichtiges Werkzeug genutzt werden, Begriffe und Zusammenhänge der Arbeitswelt zu erschließen, die sonst so nicht hätten verstanden werden können.
Wir bekommen statt dessen tendenziell bloß wieder nur die instrumentelle Seite eines Gegenstandes herausgestellt, also die Handhabungen von Geräten und nicht die verschiedenen individuellen, gesellschaftlichen, betriebswirtschaftlichen oder technischen Aspekte des Einsatzes und Vordringens dieser Kommunikationstechnologien.
(7) Dieser letzte Punkt betrifft nicht so sehr eine Klage über Missstände als vielmehr eine Bitte um Nachdenklichkeit. Es versteht sich fast von selbst, dass in einem Fach Arbeitslehre der Begriff der Arbeit fachinhaltlich und fachdidaktisch eine Schlüsselrolle einnimmt. Gleichwohl ist zu überdenken, ob er heute nicht durch andere Konzepte ergänzt werden müsste. Wir haben heute viele Jugendliche, denen der Übergang in die Arbeitswelt aus verschiedenen Gründen nicht gelingt. Wir haben mittlerweile Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation. Wir haben die Situation, dass jede noch so aberwitzige Forderung, bestimmte Produktionen beizubehalten, mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen gerechtfertigt wird. Wir haben damit eine Situation, in der die Instrumente, Organisationsformen und Mittel als Endzweck gesetzt werden und die Ziele zu Mitteln verkommen.
Insofern scheint es mir an der Zeit, vermehrt darüber nachzudenken, was wir eigentlich meinen und wollen, wenn wir von Wert-Schöpfung sprechen, die das Ergebnis von Arbeit sein soll. Die Frage nach dem, was das gute Leben für den Einzelnen und die Gesellschaft ausmachen könnte, sollte somit zu einer der konstitutiven Perspektiven der Arbeitslehre gehören. Nicht, dass das Fach diese Frage lösen und das Ergebnis allen vorschreiben könnte, aber allein schon die Beschäftigung mit diesem existentiellen Aspekt dürfte aufklärende und verändernde Kraft entfalten.
In der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sich einmal mehr bezüglich der allgemeinbildenden Schulen die Einsicht durchgesetzt, dass in ihrem Fächerkanon und dessen Inhalten etwas fehlt, nämlich etwas, das Schülerinnen und Schüler auf zentrale Herausforderungen modernen Lebens vorbereitet. Ich lasse jetzt einmal ganz jene Überlegungen beiseite, die die Sinnhaftigkeit der allgemeinbildenden Schulen mit ihrem tradierten Fächerkanon und Klassenunterricht insgesamt in Frage gestehen haben, wie wir das bei Teilen der Reformpädagogik und der Arbeitsschulbewegung nachlesen können.
Natürlich bereiten die traditionellen Fächer wie Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen, Geografie, Geschichte usw., wenn sie gut unterrichtet werden, Lernende auch auf das Leben vor und fördern Heranwachsende in ihrer Entwicklung. Gleichwohl fehlt etwas Entscheidendes. Wie immer auch der didaktische Ansatz in diesen Fächern gewählt wird und wie bedeutend auch ihr faktischer Impuls für die Jugendlichen sein mag: in letzter Konsequenz wird schließlich immer die Perspektive einer zugehörigen Wissenschaft entfaltet. Hinter jedem traditionellen Schulfach steht eine akademische Disziplin. Ihre jeweiligen Fragestellungen und darauf bezogenen Begriffsbildungen, Theorien, Methoden, Regeln usw. drücken dem Schulfach den Stempel auf, wenn das Fach ernsthaft betrieben wird.
Nun lässt aber die Gesamtheit dieser durchaus wertvollen Perspektiven der Schulfächer gleichwohl große blinde Flecken zurück. Diese blinden Flecken betreffen ein für die Heranwachsenden ungemein wichtiges Terrain - nämlich alles, was Jugendliche auf ihre tätige und gestalterische Einbindung in eine durch Erwerbsarbeit geprägte Welt vorbereitet.
· Zu diesen blinden Flecken gehören die technischen und ökonomischen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die faktischen Ausformungen und Ausdifferenzierungen des Erwerbssystems bis hin in die Anforderungen in den privaten Lebenssphären, die sozloökologischen Folgen und Gestaltungsmöglichkeiten der vorfindbaren Arbeitswelt, die Störungen und Verwerfungen in der Organisation arbeitsteiliger Prozesse und technischer Infrastrukturen, die Einbindung der regionalen Aufgaben und Probleme in globale Tendenzen und vieles mehr.
· Und wie in einem Brennglas bündeln sich diese Aspekte für jeden Heranwachsenden nochmals zu Fragen subjektiver Bedeutsamkeit: die Orientierung hin auf eine eigene Beruflichkeit, die Kultivierung dies stützender Kompetenzen und Bereitschaften, der reflektierte Aufbau zugehöriger Werte, die Ausformung begründeter Konsumstile und sozialer Orientierungen, die Fähigkeiten, seine persönlichen Gestaltungen entlang dieser Werte und Einstellungen zu entwickeln usw.
Es sollte also ein Schulfach geben, das diese Fragen erwerbswirtschaftlich geprägter Lebenssituationen thematisiert. Und bei diesen Lebenssituationen wird bevorzugt an den Haushalt, an den Betrieb und an die gesellschaftlichpolitischen Institutionalisierungen gedacht. Und neben instrumentellpraktischen Inhalten sollten vor allem auch die zentralen sachlichen Zusammenhänge deutlich macht und persönliche Orientierungen und Kompetenzen fördert werden. Das ist im Grunde wenig umstritten - solange man es derart allgemein formuliert.
Es zeigen sich nämlich sofort gewaltige Diskrepanzen und Missverständnisse, wenn man sich die Konkretisierungen dieser Idee in Unterrichten, Lehrplänen und Lehrmitteln vergegenwärtigt. Die Frage 'Welche Arbeitslehre brauchen Schüler?' verschiebt sich dann unversehens zu der Frage 'Welche Arbeitslehre brauchen Schüler nicht?' Auf einige der häufigsten Fehlformen möchte ich mit jeweils zwei, drei Sätzen eingehen.
(1) Eine erste erstaunliche Beobachtung ist die, dass Jugendliche - obwohl sie alle in die gleiche Erwerbsgesellschaft hineinwachsen, mit gleichartigen Problemen konfrontiert sind, vor gleichartigen Entscheidungen stehen, in gleichartiger Weise gefordert sind und gleichartige Wertkonflikte zu bewältigen haben, keineswegs in allen Schulformen Arbeitslehre geboten bekommen. Und wenn sie Arbeitslehre geboten bekommen, dann nicht dieselbe.
Das ist aus der Aufgabe des Fachs heraus sinnwidrig. Lernende bestimmter Schulformen mögen bestimmte Zusammenhänge mal schärfer, mal weniger differenzierend durchdringen, aber das kann keineswegs erklären, warum manchen bestimmte thematische Auseinandersetzungen vorenthalten werden - und zwar eher jenen, die tendenziell die Sache tiefer durchdringen könnten.
(2) Gerade weil das Schulfach Arbeitslehre in der Hinsicht einzigartig ist, dass hinter ihm keine Bezugswissenschaft steht, hat es nie an Bemühungen gefehlt und fehlt es auch jetzt nicht, ihm nachträglich Mütter zu verschaffen. Selbst-verständlich muss eine gehaltvolle Arbeitslehre zur Bewältigung der ihr übertragenen Aufgabe auch auf gehaltvolles Wissenschaftswissen und seine Begriffsbildungen zurückgreifen. Aber das darf nicht bedeuten, dass das Fach nur noch als organisatorische Klammer aufgefasst wird für die mehr oder weniger abbilddaktische Darbietung ökonomischer, technischer oder hauswirtschaftlicher Theorien vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen disziplinären Perspektiven.
Diese Auflösung des Fachs in additive Abbilddidaktiken finden wir in sehr vielen Bundesländern. Wir finden sie tendenziell auch in Hessen etwa im Gymnasium, in dem die Arbeitslehre auf eine in die Sozialkunde hinein gepfropfte Ökonomik reduziert wurde. Wir finden das auch als Hegemonialanspruch einer Disziplin, der Ökonomik, wenn derzeit große Verbände, aber auch einige wissenschaft-liche Einrichtungen fordern, Wirtschaftslehre solle (anstelle der Arbeitslehre) an Schulen eingeführt werden. Alle diese Wege bedeuten, dass die genuinen Ziele und Aufgaben einer Arbeitslehre preisgegeben werden.
(3) Es gibt aber auch das genau spiegelbildliche Problem, das auch in Hessen seit der Lehrplanrevision in den 90er Jahren vermehrt zu beobachten ist und mit einer dramatischen inhaltlichen Verflachung der Unterrichte einhergeht. Aufgrund einer völligen Fehldeutung der lerntheoretischen Grundlagen eines Lernens durch Handeln, verkommt der Unterricht schnell zum Aktionismus, Basteln, Werkeln und zu thematischer Beliebigkeit. Ein solcher Unterricht strebt nicht mehr an, über sorgfältig gewählte Lernanlässe das Handeln der Schüler zum besseren Aufbau und Verständnis theoretischer Begriffe zu nutzen.
Wenn - beispielhaft gesprochen (und das Beispiel ist mehr der Physik entlehnt) - im Unterricht Bilder aufgehängt werden sollen und Schüler dazu angehalten werden, Nägel selbsttätig möglichst präzise, effektiv und unfallfrei in die Wand zu schlagen, lernen sie vermutlich durchaus nützliche Dinge, allerdings pragmatische. Über diesen Anlass wird niemand angestoßen oder unterstützt, z.B. über den Begriff der Gravitation nachzudenken und sich ihn zu erschließen. - In gleicher Weise fördern heute in der Arbeitslehre viele fehlorlentlerte Aufträge zu Schülerarbeiten alles andere als die Erschließung bedeutender begrifflicher Konstrukte, um die Welt besser verstehen und gestalten zu können.
Tatsächlich ist das didaktische Konzept der Arbeitslehre, das sich - um es in zeitgemäßen Ausdrücken zu bezeichnen - an den Ideen der konstruktivistischen Didaktik orientiert, sehr anspruchsvoll, und es ist eine große Schwierigkeit für Lehrende, Aufgaben und Handlungsanlässe zu kreieren, die den Lernenden helfen, 'über den Tellerrand zu gucken'. Ich denke, dass die Lehrenden bei diesem schwierigen Geschäft in keiner Weise hinreichend unterstützt werden.
(4) In der unterrichtlichen Praxis gibt es - so höre ich es aus Diskussionen mit Lehrerinnen und Lehrern immer wieder heraus - zu der eben beschriebenen Ausprägung der Arbeitslehre als Mixtum aus Alltagswissen, Pragmatismus und Einsprengseln von Expertenwissen eine weitere bedenkliche Variante. Ich denke, dass diese zum schlechten Image des Fachs wesentlich beitragen dürfte.
Vielfach scheint auf das Erreichen spezifischer Ziele verzichtet zu werden. Ansprüche an inhaltliche Ergebnisse haben sich verflüchtigt. Was man in keinem Mathematik- oder Deutschunterricht durchgehen lassen würde, dass es nämlich gleichgültig sei, ob jemand richtig rechnet oder schreibt, das nimmt man für dieses Fach billigend in Kauf. Die Schülerinnen und Schüler seien heute so problematisch, schwierig, überfordert, lustlos. Man müsse sich nach der Decke strecken. Man müsse froh sein, wenn man etwas finde, bei dem die Klasse mitarbeite. Das ist eine sozialpädagogische Argumentation, und vermutlich nicht einmal eine schlüssige. Jedenfalls hat diese Anspruchslosigkeit mit den Aufgaben des Fachs Arbeitslehre nichts mehr zu tun.
(5) Auch zu dieser unterrichtlichen Auslegung finden sich Gegenpole. Aus der m.E. durchaus richtigen Einschätzung, dass die Jugendlichen zwar zu fördern, aber auch zu fordern sind und dass diese Forderungen sich z.T. über die Berufsorientierung bis zu den Ansprüchen und Erwartungen der Betriebe rückverfolgen lassen, wird in problematischer Weise gefolgert, die Schulen seien gehalten, sich im Interesse an ihren Schülern unbedingt und unbedrängt zum Erfüllungsgehilfen betrieblicher Erwartungen zu machen. Zur Sprache kommt dann i.d.R. eine lange Liste, die zahllose Fähigkeiten, Bereitschaften, Kompetenzen u.ä. auflistet: Arbeitstugenden, Flexibilität, Mobilität, lebenslanges Lernen, Ich-Kompetenz, Sozialkompetenz...
Verlängert man in unkritischer Weise diese Ideen der Betriebe in die Schulen, ist das mit dem gesetzlich fixierten Bildungsauftrag der Schulen und den Intentionen des Fachs Arbeitslehre nicht vereinbar. Schülerinnen und Schüler haben sich sehr wohl mit den Fremderwartungen auseinander zu setzen und sollten realistische Konzepte aufbauen, aber die Arbeitslehre ist nicht der Ort bloßer Anpassungsprozesse.
(6) In einer sehr platten Spiegelung dieser berufsorientierten Sichtweisen werden häufig Ideen reaktiviert, die der Arbeitslehre vorgängig waren. Das findet sich teilweise auch in aktuellen hessischen Lehrplanentwürfen zur Arbeitslehre.
Die Arbeitslehre ist immer wieder missverstanden worden als ein Fach, das die Inhalte von Unterrichten anderer Bezeichnung eigentlich nur fortführe: Werken, textiles Gestalten, Ernährung usw. Die hier angesprochenen Fertigkeiten aus Lehrplänen, die überwiegend vor mehr als 40 Jahre gültig waren, wirken auf die didaktisch interessierten Zeitgenossen natürlich z.T. antiquiert, aber die Kritik richtet sich dann leider nicht so sehr auf die instrumentelle Beschränktheit der Ansätze als auf die überlebte Thematik.
Es werden daher nur Modernisierungen vorgeschlagen. Die Modernisierungen konzentrieren sich dann darauf, Arbeitslehre als ein Fach zu interpretieren, in dem in moderne Medien eingeführt wird. Also: Arbeitslehre ist dann z.B. der Ort, an dem intensiv Grundkurse für den Umgang mit Computern zu veranstalten sind.
Nicht dass in modernen Unterrichten nicht auch moderne Medien Platz haben sollen, aber der Einsatz dieser Medien ist in der Arbeitslehre (wie anderswo) nur gerechtfertigt, wenn die Medien als wichtiges Werkzeug genutzt werden, Begriffe und Zusammenhänge der Arbeitswelt zu erschließen, die sonst so nicht hätten verstanden werden können.
Wir bekommen statt dessen tendenziell bloß wieder nur die instrumentelle Seite eines Gegenstandes herausgestellt, also die Handhabungen von Geräten und nicht die verschiedenen individuellen, gesellschaftlichen, betriebswirtschaftlichen oder technischen Aspekte des Einsatzes und Vordringens dieser Kommunikationstechnologien.
(7) Dieser letzte Punkt betrifft nicht so sehr eine Klage über Missstände als vielmehr eine Bitte um Nachdenklichkeit. Es versteht sich fast von selbst, dass in einem Fach Arbeitslehre der Begriff der Arbeit fachinhaltlich und fachdidaktisch eine Schlüsselrolle einnimmt. Gleichwohl ist zu überdenken, ob er heute nicht durch andere Konzepte ergänzt werden müsste. Wir haben heute viele Jugendliche, denen der Übergang in die Arbeitswelt aus verschiedenen Gründen nicht gelingt. Wir haben mittlerweile Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation. Wir haben die Situation, dass jede noch so aberwitzige Forderung, bestimmte Produktionen beizubehalten, mit dem Erhalt von Arbeitsplätzen gerechtfertigt wird. Wir haben damit eine Situation, in der die Instrumente, Organisationsformen und Mittel als Endzweck gesetzt werden und die Ziele zu Mitteln verkommen.
Insofern scheint es mir an der Zeit, vermehrt darüber nachzudenken, was wir eigentlich meinen und wollen, wenn wir von Wert-Schöpfung sprechen, die das Ergebnis von Arbeit sein soll. Die Frage nach dem, was das gute Leben für den Einzelnen und die Gesellschaft ausmachen könnte, sollte somit zu einer der konstitutiven Perspektiven der Arbeitslehre gehören. Nicht, dass das Fach diese Frage lösen und das Ergebnis allen vorschreiben könnte, aber allein schon die Beschäftigung mit diesem existentiellen Aspekt dürfte aufklärende und verändernde Kraft entfalten.